Die Weltverbesserer - Silicon Valley oder Europa?

Unternehmerische Philanthrophie: Kapitale Unterschiede zwischen Europa und Silicon Valley   

Ob im Silicon Valley oder in Europa – auf einmal wollen alle nicht mehr nur Geschäfte machen, sie wollen gut dabei sein. Und doch scheinen Welten zu liegen zwischen den jeweiligen Ansätzen zur Weiterentwicklung des Kapitalismus.

Stephan Jansen, der seit 1999 zwischen Kalifornien und Deutschland pendelt, sieht vor allem ein faszinierendes Potenzial – wenn es denn gelänge, die technische Liebe zur Lösung auf der einen und den Sinn für das Soziale auf der anderen Seite neu zu verbinden.

Text: Stephan A. Jansen
 

Hin- und hergerissen im Gesellschaftsspiel des Guten

Die Digitalisierung hat unser Leben erleichtert – und uns eine Menge neuer Widersprüche beschert. Wir nutzen Hardware als Statussymbol, wohl wissend, dass die Produktionsbedingungen eigentlich nicht akzeptabel sind. Wir verwenden sorglos Software und Apps, trotz aller bekannten Datenprobleme. Die sogenannte Sharing Economy beeindruckt uns, auch wenn uns die damit einhergehenden prekären Arbeitsverhältnisse, die Ökonomisierung aller Lebensräume und die digitalen Monopole erschrecken.

Und sind wir nicht auch ambivalent, wenn es um den privaten Reichtum geht? Lässt es uns wirklich kalt, dass die Superreichen immer reicher werden und es Youngsters um die 30 mit ihren zumeist internetbasierten Start-ups zu Milliardenbewertungen gebracht haben? Und was ist davon zu halten, dass Mark Zuckerberg 99 Prozent seiner Facebook-Aktien, derzeit etwa 45 Milliarden Dollar, lebenslang für wohltätige Zwecke spenden will, obgleich er statt der neuen haftungsbeschränkten Firma ja auch einfach mehr Steuern zahlen könnte?

Gleichzeitig schauen wir zu, wie Werbeagenturen dem Kapitalismus einen Kommunikationsstil verpassen, der an Kirchentage erinnert: Ford ist gegen Scheidungen und Edeka gegen die Vereinsamung von Senioren – mit dem jeweiligen Geschäftsmodell hat das nichts zu tun. Und ganz nebenbei warten eine Menge größerer Probleme auf eine Lösung, von der Überschuldung der Nationalstaaten über die Energiewende bis hin zur Flüchtlingskrise.

Wir scheinen in einer Zeit zu leben, in der neue Spiele gespielt werden. Und da haben wir es vor allem mit dem Gesellschaftsspiel des Guten zu tun, in dem es um Macht und Legitimität geht und darum, wer mit welchen Gütern die Nöte der Zeit bekämpft. Ob Klima und Energie, Migration und Flüchtlinge, Gesundheit und Bildung, Sicherheit und Mobilität oder Ernährung und Wasser: Alle gesellschaftlichen und globaler werdenden Aufgaben liegen auf diesem Spielfeld und warten darauf, von neuen Spielern mit neuen Regeln, Techniken, Allianzen und hohen Einsätzen gelöst zu werden.

Schon heute können wir in den angelsächsischen, europäischen und asiatischen Regionen neue Spielarten der Inszenierung von Kapitalismus beobachten. Die Grenzen zwischen For- und Non-Profit, zwischen der Philanthropie von Stiftungen und dem Geschäftssinn von Corporate-Social-Responsibility-Abteilungen, den Zielen von Wohlfahrtsorganisationen, Sozialunternehmen und Nichtregierungsorganisationen verschwimmen und formieren sich zu dem noch unscharfen Bild eines Philanthrokapitalismus.

Ja, wir sind zu Recht zwiegespalten oder ambivalent. Schon 1995 haben die Medienwissenschaftler Richard Barbrook und Andy Cameron in ihrer „Californian Ideology“ genau diese Ambivalenz als bewusstes Prinzip des Silicon Valley ausgemacht. Nun wird es Zeit, die europäische Perspektive dazu zu beleuchten. Warum denken wir derzeit so intensiv darüber nach, wie die Welt eine bessere werden könnte? Vielleicht geht es um den von Robert Musil im ersten Band seines Jahrhundert-Romans „Der Mann ohne Eigenschaften“ beschriebenen Möglichkeitssinn, um die Suche nach der Mischung zwischen „Genauigkeit und Seele“. Und vielleicht könnte uns das jener schon so lange erhofften intelligenten Verbindung von Gesellschaft und Technik näherbringen – lernende Algorithmen verhelfen einer heterogenen Gemeinschaft zu sozialer Innovation.

Im Spiel der Weltenbesserung wird es ambivalent bleiben: digital und sozial, philanthropisch und unternehmerisch, kalifornisch und alteuropäisch.

Wer sind die Spieler, was die Einsätze?

Die kalifornischen, europäischen und auch die noch kaum erforschten asiatischen Ideen zur Verbesserung der Welt sind sehr verschieden – aber überall ist das Gesellschaftsspiel des Guten in vollem Gange. Und es zeigt sich, wie wenig die bisherige Aufstellung taugt. Die Trennung in Staat, Markt und Non-Profit-Sektor ist ebenso unpraktisch wie die Aufteilung in öffentliche und private Güter – beides dient nur dazu, die bisherige Arbeitsteilung bei der Bekämpfung negativer Begleiterscheinungen zu legitimieren.

Schauen wir das noch nicht exakt vermessene Feld genauer an:

1 ) Non-Profit-Organisationen und freie Wohlfahrtsverbände: Im 15. und 16. Jahrhundert mit Stiftungen wie dem Cusanusstift oder der Fuggerei gestartet, im 18. Jahrhundert aus kirchlichen und religiösen Einrichtungen weiterentwickelt, haben diese Sozialorganisationen im 20. Jahrhundert einen bis heute rasant ansteigenden Marktanteil an der Bruttowertschöpfung und der Beschäftigtenzahl erreicht – stärker wachsend als alle anderen Industrien. In Deutschland machen sie heute etwa 7 Prozent der Gesamtwertschöpfung und 11 Prozent der Beschäftigten aus, was seit 2000 einen Anstieg um bis zu 30 Prozent bedeutet.

2 ) Nichtregierungsorganisationen: Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es gerade mal 40 solcher Organisationen, 2014 waren nach Angaben der Vereinten Nationen mehr als 4000 aktiv – davon jeweils rund ein Drittel in Europa und Nordamerika, mit wachsender Tendenz aber vor allem in Asien und Afrika. Ihr Einfluss in immer komplexere Politikverfahren im Ringen um das Gute nimmt zu.

3 ) Stiftungen und Spender: Die rund 2600 Jahre alte Idee der Philanthropie ist in allen Weltreligionen zu finden. Platons Stiftungsakademie etwa 400 Jahre vor Christus schuf dann das Fundament, auf dem im 15. Jahrhundert die Medici und ab dem 17. Jahrhundert Großspender wie John Harvard, John D. Rockefeller, Leland Stanford und Alfred Nobel wirkten. Im 18. und 19. Jahrhundert begann dann die Pädagogik- und Philosophie-Diskussion der Philanthropie. Heute erleben wir eine bislang unbekannte Dimension einer Vermögenskultur. Vergleicht man die Stifterszene in den USA, Europa und Deutschland zeigt sich folgendes Bild: Die USA haben mit gut 104 000 Stiftungen knapp 26 000 weniger als Europa, sind allerdings mit einem Stiftungskapital von 823 Milliarden Dollar knapp doppelt so hoch kapitalisiert. Die Zahl der deutschen Stiftungen hat sich seit dem Jahr 2000 auf mehr als 20 000 verdoppelt – ihnen setzt die Niedrigzinspolitik jedoch ebenso zu wie die lauter werdende Kritik, es mangele an Effizienz und Effektivität. Bei den privaten Spenden spiegelt der Vergleich Deutschland und USA die Unterschiede bei der sozialen Absicherung wider: Trotz des Anstiegs auf 5,5 Milliarden Euro wurden in Deutschland 2015 lediglich 132 Euro pro Einwohner gespendet, in den USA waren es 710 Euro.

4 ) Corporate Social Responsibility (CSR): Seit dem Mittelalter gelten – zum Beispiel in der Hanse – Richtlinien für die gesellschaftliche Verantwortung der Wirtschaft, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts deutlich erweitert wurden. Umgesetzt wird das heute vor allem in Form von Sponsoring, das in Deutschland zwei Drittel aller Unternehmen betreiben. 2015 flossen schätzungsweise 11 bis 13 Milliarden Euro in solche CSR-Leistungen, bevorzugt in den Sport. Es gibt also noch unausgeschöpfte Potenziale bei sozialen Aufgaben und verantwortlichen Geschäftsmodellen.

5 ) Social Impact Bonds: Diese auf soziale Investitionen spezialisierten Finanzinstrumente erreichen im Global Impact Investing Network (GIIN) eine Höhe von etwa 60 Milliarden Dollar, in Deutschland gehen McKinsey und Ashoka von lediglich 5 Millionen Euro aus.

6 ) Ehrenamtliche: Etwa 19 Prozent der Deutschen engagieren sich freiwillig, vorrangig in Sport und Wohlfahrtsorganisationen. Im OECD-Vergleich ist das noch unterdurchschnittlich. Spitzenreiter sind die USA; dort setzt man wesentlich stärker auf die von Unternehmen unterstützte Freiwilligenarbeit; 42 Prozent der Bürger sind pro Monat aktiv.

7 ) Privatvermögen: Reichtum und die Diskussion darüber polarisieren. 0,7 Prozent der Weltbevölkerung besitzt mehr als eine Million US-Dollar und damit gut 45 Prozent des Weltvermögens. In Deutschland haben die 100 Reichsten ein Gesamtvermögen von 428 Milliarden Euro. Bis 2024 stehen 3,1 Billionen Euro an deutschen Erbschaften an, wovon ein Drittel auf nur zwei Prozent der Erbschaftsfälle entfallen wird. Und im Silicon Valley? Die Zahl der sogenannten Einhörner, also der Start-ups mit mehr als einer Milliarde Dollar Bewertung, liegt aktuell laut »Fortune« bei 174.

Als Zwischenfazit können wir drei Veränderungen feststellen:

  1. Die „Moralisierung der Märkte“ nimmt zu. Von der Wirtschaft wird zunehmend Verantwortung sowohl für die Geschäftsmodelle als auch für die Gesellschaft allgemein eingefordert.
  2. Die „Vermarktlichung des Staates“ nimmt in Deutschland ebenfalls zu – weil immer mehr Leistungen an Non-Profit- und Wohlfahrtsorganisationen vergeben werden.
  3. Eine „Wiederbelebung der Philanthropie“ durch die Konzentration des privaten Reichtums. Gleichzeitig zeichnet sich ein neues Machtspiel ab, in dem sowohl der Einsatz als auch die Technik zu Veränderungen führen wird.

Die neuen Philanthropen

Die Verwendung der Vermögen einiger US-amerikanischer Stiftungen, ob Hewlett, Rockefeller, Ford oder die Bill & Melinda Gates Foundation, lässt im Vergleich zu Europa bereits eine deutlich strategischere und unternehmerische Philanthropie erkennen. Besonders die Bill & Melinda Gates Foundation hat früh eine neue unternehmerische Wohltätigkeit entwickelt – mit einem Stiftungskapital, das etwa dreimal so hoch ist wie alle jährlichen deutschen Unternehmenssponsorings und -spenden zusammen. Es wird nicht in den Sport investiert, sondern in den Kampf gegen Kindersterblichkeit, in Klimaschutz und Bildung gegen Armut. Und es wird nicht gespendet, sondern mit Beteiligungskapital die konkrete Umsetzung gefördert, mit unabhängiger Begleitforschung. Das waren Vorboten für eine „hacked philanthropy“, die mit dem romantischen Mäzenatentum bricht.

Pierre Omidyar, der Gründer von Ebay, hat über sein Omidyar Network bereits knapp eine Milliarde Dollar als von ihm so genanntes Frontier Capital investiert – für „marktbasierte Leistungen der Lebensverbesserung“ in Start-ups, rund 50 Prozent mit und 50 Prozent ohne Gewinnerzielungsabsicht.

Dustin Moskovitz, Mitgründer von Facebook, möchte nach eigenen Angaben mit Good Ventures die Grenzen traditioneller Philanthropie überwinden. In vier Jahren wurden in mehr als 100 Projekten knapp 100 Millionen Dollar ausgegeben. Dabei wurden Produkte erfunden wie die Gelddirektspende auf das Mobiltelefon von Bedürftigen.

Noch konsequenter ist die Alphabet Inc., die Google-Holding, die jeden Buchstaben des Alphabets mit innovativen Ideen zu belegen versucht. Das X bezeichnet die akademisch wohl potenteste Forschungsabteilung der Welt, noch vor allen Elite-Universitäten, wo Lösungen zu nahezu allen Weltproblemen entwickelt werden. Selbstlenkende Fahrzeuge sollen die Zahl der Unfalltoten reduzieren, Duschkabinen-Scanner Hautkrebs erkennen, Big Data Finanzdienstleistungen optimieren und Ballons Entwicklungsländer mit Internetzugang versorgen. Auch zur Neuro-Informatik oder dem Management ganzer Kommunen wird geforscht und erprobt. Ergänzt wird diese Weltverbesserung durch das Google Cultural Institute und durch Hochschulbildung mit der von Sebastian Thrun, ehemals Leiter von Google X, initiierten Gründung Udacity – einem Online-Bildungszertifizierer, der zum weltweiten „Ikea der Bildung“ werden will. Bei den Google-Projekten denkt man in Kennedy-Dimensionen: Mindestens zehnmal besser lautet das erklärte Google-Ziel der geforderten und geförderten „moonshots“.

Dabei helfen noch einige andere Ableger des Konzerns: Google.org ist die Philanthropie-Tochter, die innerhalb der For-Profit-Welt von Google Inc. angesiedelt ist. Die Fakten: 100 Millionen Dollar an Spenden, 80 000 Stunden Freiwilligenarbeit der Mitarbeiter und eine Milliarde Dollar an Produktspenden pro Jahr. Das Motto: „A better world, faster.“ Die Mission von Google.org: „Tech-Unternehmer nutzen Innovationen, um die größten Herausforderungen der Welt zu lösen. Wir investieren in Teams mit mutigen Ideen, die eine nachhaltige globale Wirkung erzielen.“

Die Aktivitäten reichen vom Engagement gegen Menschenhandel, für Menschen mit Behinderung, für den Katastrophenschutz, Flüchtlingsarbeit, Mikrofinanzierungen und die lokale Unterstützung von Non-Profit-Firmen, wie gerade im Februar in Berlin mit der Google Impact Challenge – kalifornische Spenden für deutsche Sozialunternehmen.

Und dann gibt es noch Google Jigsaw: ein, so die Selbstdarstellung, „Technologie-Inkubator für die herausforderndsten geopolitischen Themen“ mit digitalen Werkzeugen zum „Schutz der verletzlichen Bevölkerung gegen die Sicherheitsrisiken“, gegen Zensur und für die Meinungsfreiheit.

Heiligt der Tech die Mittel?

Stellen wir uns vor, dass Google wirklich nichts Böses will, wie es 2004 versprach. Seit Oktober 2015 heißt es im Verhaltenskodex von Alphabet Inc. etwas bescheidener: „Do the right thing.“ Aber was, wenn die noch immer jungen Gründer irgendwann gar nichts mehr wollen können – weder gut noch richtig noch böse? Der Glaube an die weltverbessernde Wirkung von Technik hat immer schon Kritiker angezogen, einer von ihnen ist Lawrence Lessig, der sich seit Ende der Neunzigerjahre zu Rechtsfragen im Netz äußert. Der Professor für Rechtswissenschaften an der Harvard Law School geht davon aus, dass es in unserer rechtlich und demokratisch verfassten Gesellschaft vier Kräfte gibt: Märkte, Normen, Gesetze und Codes. Diese sind zwar auf den ersten Blick nicht gleichwertig, aber sie verändern als Software-Architekturen zunächst Märkte und dann auch Gesetze – „Code ist Gesetz“, so Lessigs Schlussfolgerung.

Auf dem Weg dorthin entstehen Monopole und damit quasi-öffentliche Güter: Ebay als Monopol der „Globalisierung des Trödels“, Facebook als „Telefonbuch des multimedialen Internetzeitalters“, Airbnb als „globale Mitwohnzentrale“, Uber als „globale Mitfahrzentrale“, Google als globale Suchmaschine für das gesamte Leben, iTunes als Medienverwaltung oder Amazon als Onlinehandels-Enzyklopädie mit globaler Logistik-Expertise. Ein Anbieter für alles in einem Marktsegment – überall. Die digitalen Geschäftsmodelle fordern na- tionale Grenzen, staatliche Regulierungen und Branchengewohnheiten heraus oder ignorieren sie schlicht, weil wir die Welt der zwei Geschwindig-keiten, technische Entwicklung und die gesellschaftliche Anpassung daran, immer deutlicher zu spüren bekommen.

Hier setzt Evgeny Morozov an, mit 31 Jahren einer der jüngeren Vertreter der Silicon-Valley-Kritik. Der in Stanford, Washington und Berlin forschende Autor prägte den Begriff des Solutionism, also jene kalifornisch geprägte Haltung, mit Technik lasse sich für jedes Menschheitsproblem eine schnelle Lösung finden. Größere Sorgen macht sich Morozov jedoch um die politische Sphäre, in der jede Neuerung genutzt wird, um die Bürger zu überwachen. Der gebürtige Weißrusse wirft dem Silicon Valley Provinzialität und völlige Ignoranz gegenüber den Nebenwirkungen ihrer Arbeit vor. Dieser Beschreibung ist viel abzugewinnen, wenn man mit leichtem Unbehagen miterlebt, wie an der Stanford University und anderswo gerade Geistes- durch Computerwissenschaften ersetzt werden, so auch 2015 durch Beschluss des Wissenschaftsministeriums in Japan. Als bräuchte die Informatik nicht gerade jetzt die Geistes- und Sozialwissenschaften zur Reflexion.

Die globale Digitalisierung und unvorstellbar große private Vermögen fordern die eingeübte Arbeitsteilung von legislativer, exekutiver und judikativer Gewalt heraus und – zumindest in Demokratien – auch die der Medien: Mit den digitalen Konzernen ist eine fünfte und mit den Privatvermögen eine sechste Gewalt in unserer ebenso individualisierten wie vernetzten Gesellschaft entstanden. Gewalten, die nun langsam lernen müssen, aufeinander Bezug zu nehmen.

Kalifornische Rasanz + europäische Nachhaltigkeit

Treffen alte Millionäre auf junge Milliardäre, dann prallen auch zwei Ideen aufeinander: Die einen spenden im hohen Alter Geld für Projekte, die meist mit den eigenen Neigungen und Wiedergutmachungen zu tun haben und nicht unbedingt auf Wachstum ausgerichtet sind. Die anderen entwickeln neue philanthropische Geschäftsmodelle und investieren in Sozialprojekte, in denen digitale Technik gesellschaftliche Probleme löst. Das eine ist die kalifornische Idee (für viele eher eine Ideologie), mit Technik und Unternehmertum lasse sich jedes Problem lösen – und wenn erst die digitalen Codes die Welt infiziert hätten, werde alles gut. Die europäische Idee (die im Zuge von Finanz- und Flüchtlingsthemen vielleicht derzeit ebenso Ideologie oder Utopie ist) baut dagegen auf die soziale Marktwirtschaft und das wohlfahrtstaatliche Problem- und Verantwortungsbewusstsein diverser Gemeinschaften, ergänzt durch legitimierte neue Institutionen.

Die kalifornischen Erfolge sind berauschend. Und mit Räuschen kennt man sich südlich von San Francisco und Berkeley aus, wo sich nach 1969 jene besondere Mischung aus Hippietum, Hybris und Hyperkapitalismus entwickelte. Die alteuropäischen Erfolge wirken dagegen nüchterner, aber nachhaltig: Institutionen wie Solidarversicherungssysteme, Generationenverträge, Minderheitsregierungen, direkte Demokratien – und dies alles bei komplexer kultureller und sprachlicher Heterogenität in föderaler Struktur auf engstem Raum.

Kalifornische Disruption steht Europas Evolution gegenüber, Unternehmertum dem bürokratisierten Gemeinwohl. Fehlt es in Kalifornien anscheinend an der Reflexion über die Legitimität unternehmerischen Handelns, so ist in Europa der Sinn für die Digitalisierung unterentwickelt und dafür, dass sich mit ihr soziale Geschäftsmodelle erkennen und verbreiten lassen.

Digitale soziale Innovationen

Wie weiter? Robert Musil schreibt vom „Generalsekretariat der Genauigkeit und Seele“ – und vielleicht weist das einen Weg. Die Datengenauigkeit, die künstliche Intelligenz, die Transparenz werden nochmals eindrucksvolle Sprünge machen, aber die Seele muss dabei sein – das Intuitive, das andere Wissen, die Diversität und das Gefühl der Legitimität. Die Musil’schen Möglichkeitsmenschen leben „in einem Gespinst von Dunst, Einbildung, Träumerei und Konjunktiven; Kindern, die diesen Hang haben, treibt man ihn nachdrücklich aus“. Der Möglichkeitssinn hängt von diesen Menschen in diesem feinen Gespinst ab, von einem Gespinst des Technischen und des Sozialen.

Das könnte zu folgenden Hybriden führen:

  1. Kalifornische lösungsorientierte Datenpräzision und Arbeitserleichterung mit globaler Wirkung trifft auf den europäischen Gedanken der Seele eines Problems und der Verantwortung und der deshalb mitunter etwas langsameren Erfindung legitimierter sozialer Designs. Wirksamere Spieler-Allianzen, Spieltechniken und Spielregeldesigns werden möglich.
  2. Es ist eine gewisse Kompetenz notwendig, um mit staatlichen, unternehmerischen und privaten (Stiftungs)-Vermögen wirksam umzugehen. Diese verschiedenen Vermögen und die dahinterstehenden Generationen in Verbindung zu bringen kann eine neue Beziehungsfähigkeit, aber auch überraschende Bündnisse des Guten fördern. Ob Wohlfahrtsverbände sich an Start-ups im sozialen Bereich finanziell beteiligen und mit CSR-Abteilungen zusammenarbeiten, ob risikokapitalgebende Stiftungen Prototypen finanzieren und dank staatlicher Matching-Fund-Initiativen verbreiten oder ob Universitäten Gelegenheitsstrukturen für die ehrenamtliche Arbeit von Studierenden und Senioren schaffen – all dies wäre ein Gewinn.

Das 20. Jahrhundert war eines der technischen Innovationen. Ein Jahrhundert der Maschinen, das vielen Wohlstand gebracht, aber die Schöpfung bisweilen erschöpft hat. Das 21. Jahrhundert könnte eines der Versöhnung von sozialen und technischen Innovationen werden – für das Beste aus allen Welten. Darum sollten wir uns genauer und mit Seele kümmern.

Prof. Dr. Stephan A. Jansen

Autoreninfo

Leiter des Center for Philanthropy & Civil Society (PhiCS) und Professor für Management, Innovation & Finanzierung an der Karlshochschule, Karlsruhe. Sein Standardwerk zu „Mergers & Acquisitions“ ist gerade in 6. Auflage bei Springer Gabler erschienen.

Erschienen im Wirtschaftsmagazin „brand eins“ 05/2016